Kocher: "Dann gibt es weniger Grund für Sozialleistungen"
Wirtschafts- und Arbeitsminister Kocher (ÖVP) orientiert sich an Kanada – und will niemandem Ideologie vorwerfen.
KURIER: Auf 206.500 offene Stellen kamen im Vorjahr 250.000 Arbeitslose: Wie geht das zusammen?
Martin Kocher: Das hat mehrere Ursachen. Trotz des Angriffskrieges auf die Ukraine war 2022 ein wirtschaftlich gutes Jahr. 5 Prozent Wachstum führten zu hohem Arbeitskräftebedarf. Zudem gehen die geburtenstarken Jahrgänge in Pension. Wir sollten den Fachkräftemangel auch nicht für alles verantwortlich machen. Es ist für die Volkswirtschaft jedenfalls besser, mehr Arbeitskräfte zu brauchen als mit vielen Arbeitslosen konfrontiert zu sein.
Jetzt würde Ihnen die Wirtschaftskammer klar widersprechen.
Die Politik kann nur versuchen, Arbeitskräftepotenziale zu heben. Die Politik kann aber keine Jobs schaffen. Bei hoher Arbeitslosigkeit hat die Politik nur begrenzte Möglichkeiten. Wir haben etwa mit der Reform der Rot-Weiß-Rot-Karte, dem Kindergartenausbau oder der Abschaffung der geblockten Altersteilzeit viele Maßnahmen getroffen, um mehr Menschen in Beschäftigung zu bringen.
Die ÖVP-FPÖ-Regierung wollte die Zumutbarkeitsregeln verschärfen, damit Jobs angenommen werden. Wenige Jahre später müssen Arbeitgeber attraktiv sein, um Personal zu bekommen. Was, wenn das Pendel wieder umschlägt?
Die Demografie wird sich nicht so schnell verkehren. Im Vergleich zu den USA haben wir beispielsweise eine höhere Beschäftigungsquote. Im Vergleich zu skandinavischen Ländern arbeiten bei uns aber weit weniger Ältere. Hier gibt es Potenzial, das wir heben können.
Kommt der Kulturwandel zu mehr Teilzeit schneller als erwartet?
Das Phänomen ist weit weniger verbreitet, als man glaubt und teils ein Privileg, denn nicht in jedem Job möglich. Dass Menschen tendenziell etwas weniger arbeiten wollen, das spielt natürlich eine Rolle. Es ist bei uns einfach so: Wer 25 Stunden arbeitet und um 10 Stunden aufstocken will, für den scheint das aufgrund der hohen Sozialabgaben manchmal nicht attraktiv.
Was tut die Politik dagegen?
Wir haben die Lohnnebenkosten um 0,4 Prozentpunkte gesenkt. Aber wir brauchen weitere Schritte, um Vollzeitbeschäftigung attraktiver zu machen, wie eine geringere Abgabenbelastung und noch treffsicheren Einsatz von Sozialleistungen. In Österreich wird wenig unterschieden bei Sozial- und Familienleistungen, ob jemand 20 oder 38 Stunden arbeitet. Wenn Menschen freiwillig weniger arbeiten, dann gibt es weniger Grund, Sozialleistungen zu zahlen.
Laut Statistik Austria bleiben 80 Prozent der Mütter im ersten Jahr freiwillig zu Hause.
Wichtig ist, die Wahlfreiheit und die Information, was Teilzeitarbeit oder Nicht-Arbeit für später bedeutet: Nämlich eine weit geringere Pension. Es muss darum gehen, eine informierte Entscheidung treffen zu können und das passiert derzeit zu wenig.
Haben Work-Life-Balance und Teilzeit-Arbeit also ein besseres Image als es der Realität am Ende des Lebens entspricht?
Ja. Das sehen Sie an den Unterschieden bei den Pensionen von Männern und Frauen. Wer mit 68 Jahren in Pension geht, der erhält deutlich mehr Pension im Monat als bei Pensionsantritt mit 62 Jahren. Aus wirtschaftlicher Betrachtung zahlt es sich jedenfalls aus, länger zu arbeiten. Vor 5 Jahren hieß es noch: Wir haben so viele Junge, ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer können schon in Pension gehen. Jetzt hat die Demografie den Arbeitsmarkt spürbar erreicht. Unternehmen bitten ihre Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bereits, länger zu bleiben. Es wird aber auch bei den Sozialpartnern ein Umdenken stattfinden müssen, weil ältere Arbeitnehmer am Ende ihrer Erwerbstätigkeit kollektivvertraglich oft mehr verdienen und damit teurer sind.
Uns fehlen Kindergärtnerinnen und Lehrer. Wer heute keine gute Ausbildung bekommt, wird später nicht ins Arbeitsleben finden und nicht die Pensionen von übermorgen zahlen. Sie müssten ständig mit Bildungsminister Polaschek zusammensitzen.
Eine gute Bildung ist Basis für ein erfolgreiches Erwerbsleben, da haben Sie recht. Ich bin betreffend Ausbildung für das AMS verantwortlich. Hier haben wir mit der Ausbildungspflicht bis 18 Jahren, der Ausbildungsgarantie bis 25 Jahren gute Voraussetzungen geschaffen. Wer unter 25 Jahre arbeitslos wird, der hat die Garantie eine Ausbildung machen zu können.
Gibt es eine Branche, die Ihnen mittelfristig wirklich Sorgen bereitet?
Natürlich gibt es Branchen wie die Pflege, wo der Anstieg des Arbeitskräftebedarfs besonders hoch ist. Die Menschen werden älter, damit steigt auch die Nachfrage nach mehr Pflegeleistungen. Im Pflegebereich wird es nicht ohne qualifizierten Zuzug und weitere Anreize gehen. Was aber klar sein muss: Wenn wir in Österreich Bereiche besonders attraktiveren, zieht es Arbeitskräfte aus anderen Bereichen dorthin. Hier muss man darauf achten, dass die Balance aufrecht bleibt.
20.000 Beschäftigungsbewilligungen für Ukrainer wurden erteilt, 13.000 sind aufrecht. Was läuft da schief?
Ich glaub nicht, dass etwas schiefläuft. Einige Vertriebene wollen bald in die Ukraine zurückkehren und sehen keine Notwendigkeit, in Österreich zu arbeiten. Andere arbeiten auch im Homeoffice – für ukrainische Firmen. Wie es mittel- und langfristig weitergeht, müssen wir uns natürlich anschauen. Ab April sollen Menschen aus der Ukraine jedenfalls einen noch unbürokratischeren Zugang zum Arbeitsmarkt haben, ohne Beschäftigungsbewilligung, wie EU-Bürger.
Ärgert es Sie, dass Kanzler und Innenminister lieber über hohe Zäune sprechen als über Konzepte für qualifizierte Zuwanderung?
Das schließt sich nicht aus. Wir brauchen qualifizierten Zuzug, der über reguläre gesetzliche Kanäle wie die Rot-Weiß-Rot-Karte erfolgt. Ja, es gibt Druck, qualifizierte Menschen aus dem Ausland nach Österreich zu bringen. Andererseits gibt aber auch irregulären Zuzug, wir hatten im Vorjahr die höchste Asylantragsquote in der EU. Es kann aber nicht jeder kommen, deshalb benötigen wir strenge Kontrollen der EU-Außengrenzen.
Ist die Zukunft eine „Festung Europa“, gepaart mit qualifiziertem Zuzug?
So würde ich das nie bezeichnen. Durch die Reform der Rot-Weiß-Rot-Karte gibt es für alle Bereiche die Option, nach Österreich zu kommen. Und zwar über ein Punktesystem für qualifizierte Arbeitskräfte, ähnlich wie in Kanada. Was schwierig ist: Zum Beispiel als Tellerwäscher ohne große Qualifikation aus Pakistan nach Österreich zu kommen. Dann könnte weltweit jeder kommen. Das funktioniert weder gesellschaftlich noch volkswirtschaftlich. Kein Staat der Welt hat so ein System.
Können Sie sich vorstellen, nach dem schlimmen Erdbeben qualifiziertes Personal aus der Türkei aufzunehmen?
Ich würde es zynisch finden, eine Katastrophe wie diese zu verwenden, um Arbeitskräfte anzuwerben. Es geht jetzt vor allem um die Hilfe im Katastrophengebiet.
Sie mussten ihre Arbeitslosenversicherungsreform im Dezember absagen. Wann war Ihnen klar, dass das nichts mehr wird?
Die Positionen in der Regierung waren zu weit auseinander, um eine sinnvolle große Reform zu schaffen. Ich glaube aber, dass eine ganz ähnliche Reform in den nächsten Jahren kommen wird. Der Arbeitsmarkt wird sich so entwickeln, dass die Vorteile dieser Reformvorschläge gesehen werden.
Haben die Grünen die ideologische Stopptaste gedrückt?
Ich werfe überhaupt niemandem Ideologie vor. Es gibt halt unterschiedliche Standpunkte in einer Koalition.
Unter welchen Umständen würden Sie über 2024 hinaus in der Politik bleiben?
Bis 2024 ist es noch so lang… Es gibt noch genug zu tun dieses Jahr. Dann werde ich mir Gedanken machen.
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